Tänzerin Sophie Hauenherm. Sie steht ausdrucksstark im Wald, stützt sich mit ihrem rechten Arm auf einer Krücke ab, den linken hat sie nach hinten ausgestreckt. Hinter ihr ist eine zweite Krücke zu sehen. Von hinten strahlt Tageslicht auf die Waldlichtung in der Sophie steht.

    Interview mit der Tänzerin Sophie hauenherm


    Dieses Interview wurde von Angela Müller-Giannetti (AMG) mit Sophie Hauenherm (SH) geführt.


    AMG: Heute möchte ich Sophie Hauenherm vorstellen: Sophie, du bist Tänzerin, du tanzt, seitdem du vier Jahre alt bist und wurdest an der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden ausgebildet. Ein halbes Jahr vor deinem Abschluss bekamst du die Diagnose „Inkomplette Querschnittslähmung“, durch einen Abszess im Rückenmark konntest du deine Beine nicht mehr bewegen. Mit viel Ausdauer und Disziplin gelang es dir, einen Teil deiner Bewegungsfähigkeit wieder herzustellen. Heute nutzt du den Rollstuhl und kannst dich auch ohne diesen eingeschränkt bewegen. Du hast dein Studium an der Palucca-Hochschule wieder aufgenommen und hast die Hochschule darum gebeten, dort trotzdem deinen Abschluss erwerben zu können und dies auch 2019 getan. Heute arbeitest du als Tänzerin und studierst Psychologie. Hallo!

     

    SH: Hallo, danke!

     

    AMG: Ich habe viele Videos von dir gesehen, in denen es insbesondere um deine Geschichte geht, um den Hintergrund und wie du es mit viel Kraft und Ausdauer geschafft hast, deinen künstlerischen Weg weiterzugehen. An dem Punkt möchte ich gerne mehr von dir erfahren, erzähl doch mal was von deiner Arbeit als Tänzerin jetzt.

     

    SH: Ich darf mittlerweile als selbstständige Tänzerin arbeiten, habe verschiedene Produktionen, in denen ich mitwirken darf, die mir auch alle sehr sehr viel bedeuten. Ich darf sowohl mit Leuten zusammen arbeiten, die besondere Bedürfnisse haben, oder auch mit Tänzer:innen, für die die Arbeit mit Menschen mit Bedürfnissen auch normal und schon Alltag ist und auch mit Leuten, für die das neu ist. Das ist total spannend auf so viele unterschiedliche Erfahrungen von Menschen zu treffen und meine eigene Erfahrung in dem Bereich immer wieder zu erneuern, zu erweitern und von neuen Sichtpunkten zu sehen. Und das ist alles auch ein sehr großer Prozess der sich auch in jeder Produktion wandelt. Das ist unglaublich spannend und auch das, was ich an dem Beruf so liebe: Dass alles eben immer wieder neu ist, dass man sich immer wieder selbst neu entwickelt und neu entdeckt.

     

    AMG: In welchen Produktionen arbeitest du aktuell?

     

    SH: Also, aktuell arbeite ich zum einen in Stuttgart mit der Tanzcompany von Gregory Darcy, ein gemischtes Ensemble von verschiedenen Tänzern mit und ohne Handicap und verschiedenen Produktionen, die wir im Jahr über machen, mit unterschiedlichen Themen, unterschiedlichen Schwerpunkten, und das ist eine total schöne Atmosphäre. Es ist eben nicht so, dass man nach Hilfe fragen muss, sondern wenn jemand sieht, ich brauch mal kurz eine Hand, die mich stützt, dann ist sofort jemand da, und das fühlt sich dann auch gar nicht als Belastung oder anders an, sondern als Selbstver-ständlichkeit. Da ist eben einfach diese Offenheit für verschiedene Bedürfnisse, die man hat, und das nehmen die Leute wahr, und das ist schön. Außerdem bin ich in Braunschweig in einer Produktion eingeschrieben, mit drei Profitänzern (Choreograph: Tiago Manquinho), für die das alle neu war, mit Inklusion konfrontiert zu werden, aber auch für die war das ein spannender Prozess, und sie haben ganz neue Bewegungs-qualitäten gesehen und wahrgenommen und damit auch für sich selbst viel Neues gelernt. Und ja, das ist total schön, diese Konfrontation stattfinden zu lassen und dann eben zu schauen, wieviel man aus den Einschränkungen lernen kann. Ich sage immer: Eine Einschränkung ist eine Erweiterung im Sinne der Qualität, im Sinne der Präzision und dass man einfach den Schwerpunkt auf andere Dinge legt, die man sonst vielleicht gar nicht so beachtet hätte.

     

    AMG: Ich habe vorhin einen Beitrag mit einem kleinen Ausschnitt gesehen, wo man dich auf der Bühne sieht und das war sehr eindrucksvoll. Eben diese Bewegungs-qualität, die du da gezeigt hast. Ich würde mal sagen, das könnte kein Mensch ohne Behinderung nachtanzen, dir gelingt ein sehr eigener sehr starker Ausdruck. Wenn du auf der Bühne bist oder probst, wie empfindest du den Umgang mit deinem eigenen Körper?

     

    SH: Da kommen verschiedene Komponenten zusammen. Zum einen bin ich natürlich immer noch die Tänzerin, die ich damals war. Vor allen Dingen von meinem Ausdruck her. Ich bin eine sehr herzorientierte Tänzerin, ich tanze viel von meinen Emotionen her und bin eben allein von meinem Dasein her stark im Ausdruck. Es war ein Pro-zess, in dem ich lernen musste, dass es ausreicht, „weniger“ zu machen. So habe ich mich am Anfang in Konfrontation mit einer Behinderung gefühlt, als würde ich nicht ausreichend viel machen, weil ich meine Beine eben nicht mehr hoch schmeißen konnte, bis ich gemerkt habe: Das definiert mich nicht als Tänzerin. Das definiert nicht meine Qualität oder wie gut ich bin, sondern was mich definiert, bin ich und mein Herz, und das kann man nicht einschränken. Und dass ich den Zuschauenden genauso viel geben kann und dies genauso wertvoll und qualitativ hochwertig ist. Ich habe mittler-weile viel Qualität gewonnen durch die Einschränkung, und das ist ein spannender Wandel durch die verschiedenen Erfahrungen die ich jetzt gesammelt habe in meinem Arbeitsleben. Und da kommen immer wieder neue Qualitäten hinzu, und die Rückmel-dungen, die ich bekomme, sind immer sehr positiv. Man sieht diese besondere Quali-tät, und das ist spannend und bedeutet viel Ausbrechen aus alten Mustern, da ich quasi in zwei Welten geboren bin: zum einen eben in dieser Welt des klassischen Tanzes und der festgelegten Regeln. Und dann in Konfrontation mit dem Auflösen der Regeln, durch die Einschränkung, die ich habe. Das beides zu verbinden und zu sagen, dass ich fernab der Regeln eine wertvolle Tänzerin bin, auch wenn ich nicht in das standardisierte System passe. Das ist genau das, was mich antreibt und beson-ders macht, dass es gut ist, so, wie es ist, und dass ich eben eine gute Tänzerin bin, egal, was ich körperlich leisten kann.

     

    AMG: Klassisches Ballett ist sehr formgetreu, es gibt ganz bestimmte Regeln des Tanzes, und wenn sich die nicht anwenden lassen, dann entstehen ein ganz neues Bild und eine neue Bewegungssprache. Was würdest du dir heute an Rollen und künstlerischen Möglichkeiten wünschen?

     

    SH: Ich möchte auf jeden Fall auch selbst in den choreographischen Prozess ein-steigen. Es würde mich auch interessieren zu gucken, ob ich meine eigene Qualitäten auf andere Tänzer:innen übermitteln kann und eben auch meine eigenen Choreo-graphien darstellen. Es ist nicht so, als hätte ich einen konkreten Produktionswunsch oder einen konkreten Wunsch, mit wem ich zusammenarbeiten möchte. Ich bin gespannt, welche Chancen ich noch bekomme, und bei jeder nehme ich was anderes mit. Mein Ziel ist, in so vielen unterschiedlichen Produktionen teilzunehmen wie möglich, so viele Menschen kennenzulernen und unterschiedliche Städte zu sehen. Das ist eine total tolle Chance und eine Möglichkeit, die sehr wertvoll sind, und die ich in meinem Berufsleben sehr schätze.

     

    AMG: Ich komme auch mal auf dieses Thema „Unterrichten“. Wir von EUCREA bewegen gerade das Programm Artplus, das heißt, wir sensibilisieren Kunsthoch-schulen in den Bereichen Tanz, Musik, Darstellende Künste usw., auf Künstler:innen und Menschen mit Behinderungen mit Talent zuzugehen. Ein langfristiges Ziel ist es, Personen in der Lehre herauszubilden, die u.a. diese besondere Bewegungsqualität mit anderen körperlichen Voraussetzungen vermitteln können. Dazu gehört sehr viel eigene Kreativität und auch der Wunsch, etwas Neues zu entwickeln.

     

    SH: Ich bin seit diesem Jahr auch als Workshopleiterin an den Landesbühnen Sachsen unter der Leitung von Wagner Moreira aktiv. Ich darf Menschen zu – ich nenne es nicht unterrichten, sondern - „Bewegung anleiten“ und „Ideen anleiten“. Es ist egal, wie alt man ist, welche Erfahrungen man hat und auch welchen Körper man mitbringt – das Wichtigste ist die Liebe zum Tanz, die Neugier und das Interesse. Und genau das ist eben immer so wichtig zu betonen, dass Tanz wertfrei ist. Wir alle haben Einschränkungen, man sieht es nur nicht jedem an. Für eine/n ist das Alter eine Einschränkung, für die/den Nächste:n sind es finanzielle Dinge, für die/den Nächste:n sind es Persönlichkeitszüge. Somit haben wir ja alle spezielle Bedürfnisse und alle unterschiedliche Charaktere. Mein Wunsch für die Zukunft wäre, dass man keine Begrifflichkeiten mehr braucht, sondern dass alles ineinander verschwimmt und es eine Selbstverständlichkeit wird. Deswegen ist es mir auch besonders lieb, wenn ich nicht als „Die Tänzerin mit Handicap“ angekündigt werde, sondern als die Sophie, die ich bin. Und die Zuschauenden, die interessiert im Endeffekt nicht, was für ein Mensch da ist, sondern die interessiert, was dieser Mensch rüberbringt.

     

    AMG: Coco de Bruycker, die als körperbehinderte Frau eine Schauspielausbildung in Amerika gemacht hat, hat uns ebenfalls ein Interview gegeben. Sie berichtet, dass in Amerika ein anderes, sehr viel offeneres Grundverständnis gegenüber Menschen mit Behinderung vorherrscht. Da können wir noch eine Menge lernen in Deutschland. Aber es tut sich was, auch das Hochschulübergreifende Zentrum Tanz in Berlin möchte mit in das Programm Artplus von EUCREA einsteigen. Und gerade in Tanz-schulen kann man in Zukunft einiges bewegen, damit dort auch Tänzer:innen mit Behinderung tätig werden und eine neues Bild von Tanz vermitteln. Eines, in dem es nicht ausschließlich um Leistung und Perfektion geht, sondern um die Entdeckung des Tanzes als persönliches und künstlerischen Ausdrucksmittel. Wie hat denn die Hoch-schule auf deine Bitte, trotz der inkompletten Querschnittslähmung einen Abschluss zu machen, reagiert?

     

    SH: Ich persönlich hatte unglaubliches Glück, da ich sehr viel Unterstützung bekom-men habe und mir sehr viel Offenheit entgegengebracht wurde. Ich hatte, als ich das Krankenhaus verlassen hatte, zwei Ziele im Kopf: meine Bachelorarbeit zu machen und das Zeugnis für meinen Bachelor am Ende stehend entgegenzunehmen. Das waren meine zwei Ziele, und es war für mich auch immer klar, dass ich an die Schule zurückkehren will. Ich werde auch weiterhin tanzen und ich möchte eben diesen Ab-schluss machen, und somit ist der Rektor von der Palucca-Schule, Jason Beechey, mir unglaublich entgegengekommen. Wir haben zusammen alle Prüfungen umge-schrieben, uns Prüfungsersatzleistungen ausgedacht, um eben die gleiche Leistung zu erbringen, nur eben anders. Und dieser Fall hatte so bisher noch nicht stattgefun-den, denn die Institution an der ich ausgebildet wurde, ist spezialisiert auf ganz, ganz hohe körperliche Leistung, die von einer bestimmten funktionellen Anatomie abhängig ist. Und eben keine Tanzenden miteinschließt, die solche Formen von Einschränk-ungen haben, wie ich sie habe. Somit war das ein absoluter Sonderfall, und trotzdem wurde es ermöglicht. Die Leute waren unglaublich gerührt bei der Präsentation meiner Bachelorarbeit und haben gesagt, dass die Qualität genau so ist wie sonst auch und dass ich die gleiche Tänzerin bin wie vorher. Somit habe ich dann am Ende tatsächlich beide Ziele geschafft: Ich habe meine Bachelorarbeit mit meinen Kommilitonen zu-sammen getanzt, und ich habe mein Zeugnis stehend entgegengenommen.

     

    AMG: Herzlichen Glückwunsch dazu. Könntest du dir vorstellen, dass, wenn jetzt eine Person mit einer körperlichen Behinderung an die Palucca-Schule herantreten würde und mit „deinem“ Curriculum studieren wollen würde, diese Person zugelassen würde?

     

    SH: Ich glaube, dass in eine entsprechende Ausbildung noch Zeit investiert werden muss.  Bei mir war es ja so, dass die Einschränkung ein halbes Jahr vor Abschluss geschehen ist. Das heißt, bei mir standen nur noch sechs oder sieben Prüfungen und eben die Bachelorarbeit aus. Das ist gerade im Kommen, und ich kenne viele Perso-nen, die daran arbeiten und die Zeit darin investieren. Ich finde es wichtiger, erstmal die Dozenten zu schulen, was der Umgang mit anderen Körperlichkeiten bedeutet, und dann die Menschen dazu zu bringen, sich auch zu trauen, solche Ausbildungen zu machen. Das gibt es teilweise schon, aber eben viel zu wenig. Ich glaube, zum jetzigen Zeitpunkt hätte die Schule nicht die Kapazität, die Mittel dafür zur Verfügung zu stellen.  Aber man hat ja gesehen, dass es möglich ist und dass es Wege gibt. Und wenn sich beide Parteien in Kommunikation miteinander hinsetzen und alles durch-gehen, dann ist das nur eine Frage der Zeit, bis man eine Lösung gefunden hat.

     

    AMG: Also denkst du auch, dass es zum Selbstverständnis von Tanzausbildungs-stätten in Zukunft gehören sollte, Menschen mit besonderen physischen Situationen für den Markt auszubilden.

     

    SH: Das muss dazugehören, denn wir sind genauso Tänzer:innen wie alle anderen. Ich kenne viele, die sich teilweise nicht trauen, dem Tanz nachzugehen, oder die eben immer nur in einer bestimmten Sparte arbeiten können, und ich denke einfach, dass diese Sparte geöffnet werden muss. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und die Dinge sind nur so lange neu, wie sie selten sind. Umso öfter es aber der Fall sein wird, dass Menschen mit Handicap an Institutionen und auf Bühnen zu sehen sind, umso weniger wird das eine Besonderheit sein. Und genau daran muss man die Menschen ranführen. Damit das eben keine besondere Sache mehr ist. Und da muss natürlich erstmal der Anfang gemacht werden. Der Anfang vom Wandel ist natürlich immer etwas, was Menschen schwerfällt oder wovor sie Angst haben, vor der Veränderung. Aber wenn einer beginnt, dann wollen es meistens alle, und ich denke, es ist wichtig, Funken zu entfachen und dem dann nachzugehen, weiter zu fördern und dranzu-bleiben. Ich denke, dass wir in den nächsten Jahren einen positiven Wandel dahin-gehend erleben werden.

     

    AMG: Was könnte oder sollte die Kulturpolitik deiner Meinung nach dafür tun?

     

    SH: Ich denke, die Kulturpolitik sollte viel Kommunikation betreiben und vor allen Dingen Projekte fördern, die Menschen verbinden. Und auch Leute an diese Sparte heranführen. Gerade die junge Generation sollte mit diesen Dingen konfrontiert wer-den, um mehr zu sehen und Offenheit zu schaffen. Im Prinzip liegt eine große Verant-wortung gerade bei den Menschen, die selber kein Handicap haben. Sich selbst zu öffnen, zu schauen und dann zusammen zu kommunizieren: Wie übermittle ich meine Bedürfnisse? Wie übermittle ich was ich brauche? So wie in allen zwischenmensch-lichen Beziehungen Wege zu finden, sich zu arrangieren und zu trauen. Ich hatte mit dem Thema Behinderung vor meiner Erkrankung nichts zu tun. Das ist so eine Sache, die man mal hört, aber sofern sie einen selber nicht betrifft oder jemanden im engen Freundes- und Verwandtenkreis, hat man Distanz dazu. Es wäre schön, wenn so drastische Änderungen nicht notwendig sind, um Offenheit für das Thema zu gewin-nen. Und deswegen finde ich Projekte so schön, die eben genau das in die Gesell-schaft reinbringen, um Berührung zu schaffen und mehr dafür zu sorgen, dass alles miteinander verbunden wird.

     

    AMG: Kanntest du vor deiner Ausbildung andere Kreative mit Behinderungen oder Tanzende?

     

    SH: Gar nicht. Das war wirklich eine Sparte, der ich mir überhaupt nicht bewusst war. Ich finde es spannend, mehr Kooperationsprojekte zu machen und gerade an meiner Institution: Wir hatten so viele Projekt- oder Praxistage, und das wäre total toll gewe-sen, da einmal einen Workshop zu veranstalten mit Menschen mit Handicap. Ich könnte mir auch vorstellen, dass man in der Tanzlehrerausbildung mal so eine Art Intensivblock macht, wo man eben genau mit solchen Menschen spricht und arbeitet. Denn diese Sparten sollten nicht so getrennt voneinander existieren und das Wissen darüber geschaffen werden, dass es diese Sparte gibt und hochinteressant ist. Und man viel gewinnen kann, auch als Mensch ohne Einschränkung.

     

    AMG: Auf der Bühne sieht man meist junge schlanke Tänzerinnen und Tänzer, das ist ein sehr normiertes Bild, das vermittelt wird. Pina Bausch hat das revolutioniert, indem sie zum Beispiel auch sehr alte Menschen auf die Bühne geholt hat oder Laien, die andere Bewegungsformen mitbringen. Das war schon ein Schritt zu zeigen: Tanz und Bewegung von Menschen auf der Bühne können auch ganz andere Formen haben als im klassischen Ballett. Zurück zu deinem Tanz: Welche Rolle spielt dabei der Roll-stuhl?

     

    SH: Also meine künstlerische Umsetzung variiert natürlich in jeder Produktion. Manch-mal tanze ich mit dem Rollstuhl, manchmal tanze ich auf einem Stuhl, manchmal auf dem Boden, manchmal durch die Unterstützung von anderen Tänzer:innen. Ich benutze den Rollstuhl also als ein Stilmittel, genauso wie der Boden oder ein Stuhl auch Stilmittel sind. Das gehört dann in dem Moment eben zur Performance dazu, und die sind dann auch wie Partner:innen, mit denen man arbeitet.

     

    AMG: Die Tanzwelt ist ja extrem hart. So eine Ausbildung zur professionellen Tänzerin bedeutet einen hochgradigen Einsatz und hat viel mit Konkurrenz zu tun. Gibt es auch was, wo du sagst, es hat sich verbessert, seitdem du in diese neue Situation gekom-men bist? Mir fällt immer auf, dass in den ganzen Filmbeiträgen über dich immer von einer Verschlechterung gesprochen wird. Wie denkst du darüber?

     

    SH: Das ist ein sehr sehr wichtiges Thema, denn ja, natürlich hat auch eine Verbes-serung stattgefunden, und wenn ich nur auf das gucke, was ich verloren habe oder was mir fehlt, dann werde ich auch nicht glücklich werden. Ich habe sehr viel gelernt und viele Erfahrungen machen dürfen, und ich frage mich nicht „was wäre gewesen wenn…“, ich vergleiche mich nicht mit dem Leben vorher, sondern ich hatte einen neuen Nullpunkt, und dessen Basis habe ich neu aufgebaut. Es gibt so viele schöne Aspekte jeden Tag, auch in meinem Berufsleben, die ich damals nicht so hatte, was genau diesen Konkurrenzdruck und diesen Vergleich betrifft. Den habe ich in meinem beruflichen Alltag jetzt gar nicht mehr. Das ist einfach nicht existent bei den Menschen, mit denen ich zusammenarbeiten darf. Da ist man eine Einheit, da respektiert man sich und ist füreinander da. Ich darf in meinem Alltag sehr viele positive Erfahrungen machen und sehr viele schöne Momente erleben, und für die bin ich unglaublich dank-bar, und weiß das zu schätzen. Weil ich auch weiß, wie es anders sein kann, und deswegen schaue ich auch immer auf das, was ich gewonnen habe. Weil es genau die Dinge sind, die mich am Ende eines Tages dankbar sein lassen dafür, dass ich diesen erleben durfte. Insofern habe ich so viele Dinge, über die ich glücklich bin und die auch verglichen mit meinem Leben damals Punkte sind, wo ich sage kann, ich bin froh, dass ich das jetzt habe.

     

    AMG: Das ist doch ein schönes Plädoyer für Vielfalt. Es kann uns als Gesellschaft sehr viel bringen, wenn wir eben nicht normierten Vorstellungen hinterherlaufen, son-dern anderen Dingen mehr Spielraum in unserem Leben lassen, das lässt sich auf vieles übertragen.

     

    SH: Absolut. Ich denke auch, es muss keine drastische Erfahrung notwendig sein, um ein bisschen mehr Wertschätzung und Dankbarkeit im Alltag zu erfahren. Wir haben halt – wenn man davon ausgeht – dieses eine Leben, und am Ende des Tages möchte ich wissen, dass ich Dinge für mich gemacht habe. Dinge, die mich wirklich erfüllt haben. Und viel zu oft hat man Angst davor, auszubrechen aus dem System oder aus Regeln, die einem vermittelt werden. Aber man sollte noch viel mehr Spielräume nutzen, viel mehr Grenzen erforschen und viel mehr auf sich zu hören und nicht auf eine gesellschaftliche Stimme. Mehr Mut zu haben, man selbst zu sein, sich selbst zu verwirklichen und die tollen Möglichkeiten nutzen, die man im Leben hat.

     

    AMG: Und was heißt das für dich? Wo bist du in fünf Jahren, wo möchtest du sein?

     

    SH: Ich möchte glücklich sein. Das ist immer das Einzige, was ich sage. Ich habe keine konkrete Zukunftsvision oder Vorstellung, sondern ich möchte glücklich sein. Ich möchte Erfahrung sammeln, ich möchte Wissen gewinnen, ich möchte leben und tanzen und lachen, und solange ich das jeden Tag mache, ist jeder Tag wertvoll.