PRESSEMITTEILUNG
Deutschland auf dem Weg zum inklusiven Kulturbetrieb:
EUCREA stellt neues Profil und Arbeitsfelder vor
Hamburg, 16.7.2025
Vielfalt stärkt Kultur, Kunst kann dazu beitragen, gesellschaftliche Prozesse zu verändern und zu verbessern. Unter diesem Motto arbeitet der Verband EUCREA an dem Ziel, Künstler*innen mit Behinderung, chronischer Erkrankung, Neurodivergenz und Gehörlosigkeit im Kulturbetrieb sichtbarer zu machen und teilhaben zu lassen. Denn Kunst und Kultur haben Wirkungsmacht: Künstler*innen und ihre Werke sind öffentlich sichtbar, sie prägen ästhetische Maßstäbe, gesellschaftliche Diskurse und kollektive Bilder. Ob auf der Bühne, im Film oder in der Galerie.
Inklusion im Kulturbereich beginnt bei der Teilhabe an Ausbildung. Wer an einer Kunst-, Musik- oder Schauspielschule eine Ausbildung absolviert, wird im späteren Leben weit höhere Chancen haben, am künstlerischen Diskurs teilzunehmen, in der Kunstwelt in Erscheinung zu treten und den persönlichen Lebensunterhalt hierüber zu erwirtschaften. Ein Studium zu absolvieren bedeutet auch, Kontakte aufzubauen und Referenzen zu erwerben, die eine berufliche Tätigkeit wahrscheinlicher werden lassen. Um dies zu erreichen, richtet der 1989 gegründete Verband sein Angebot neu aus. Zentrale Handlungsfelder sind die Ermöglichung von Ausbildung und der Übergang von Kreativen mit Assistenzbedarf in kreative Berufsfelder. Beraten und begleitet werden neben den Personen selbst künstlerische Ausbildungshäuser und Kulturbetriebe. Schon zwölf namhafte künstlerische Hochschulen in den Bereichen Musik, darstellende und bildende Künste, insbesondere in den Bundesländern Hamburg, Niedersachsen und Berlin zählen zu dem stetig wachsenden Netzwerk.
EUCREA berücksichtigt in seinen Ausbildungsprogrammen explizit auch Kreative mit intellektuellen Behinderungen – was bereits in den Medien viel Beachtung fand. Durch die künstlerische Eignungsprüfung besteht an vielen Hochschulen auch für diese Personengruppe die Möglichkeit, ohne ein Abitur eine Zulassung erreichen zu können.
Strukturelle Barrieren und verfehlte Inklusionsziele: Deutschland belegt bei der Genfer Staatenprüfung gemeinsam mit Österreich das Schlusslicht im Bereich Bildung
Menschen mit Behinderungen sind Teil der Gesellschaft. Dennoch haben sie im Bereich Ausbildung und Arbeit – nicht nur im künstlerischen Bereich – nach wie vor deutlich schlechtere Zugangsmöglichkeiten und Chancen. Kreative mit Behinderung wurden über Jahrzehnte in Sonderbereiche verwiesen – oft begrenzt auf Werkstätten oder Projekte im Rahmen der Behindertenhilfe. Bildnerische Werke wurden unter Sonderkategorien wie “Art brut” oder “Outsiderkunst” von der Kunstwelt wahrgenommen. Auf Bühnen und im Film erhalten Menschen mit Behinderungen immer wieder stigmatisierende Rollen. Eine gleichberechtigte Teilhabe an künstlerischer Ausbildung oder Arbeit gelingt nur den wenigsten – und wenn, dann überwiegend unterstützt durch das soziale Umfeld.
Die strukturellen Barrieren sind vielfältig: Es fehlt an qualifizierenden Angeboten im künstlerischen Bereich innerhalb der Kinder-, Jugend- und Berufsbildung, die für junge Menschen mit Assistenzbedarf erreichbar sind. Kreativen mit Behinderung wird ein künstlerischer Berufsweg oft nicht zugetraut, öffentliche Ausbildungshäuser zögern bei der Zulassung, da es an Kenntnis zu Lehrmethoden und angepassten Leistungsnachweisen, barrierefreier Infrastruktur und individuellen Unterstützungsangeboten mangelt. Der private und öffentliche Kulturbetrieb hat wenig Erfahrungen mit der Einstellung von Personen mit Assistenzbedarf.
Kultur steht hier stellvertretend für andere Bildungsbereiche: Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde von Deutschland bereits 2007 unterzeichnet und 2009 ratifiziert. Deutschland erhielt bei der letzten Genfer Staatenprüfung 2023 zur Umsetzung der Konvention im Bereich Bildung (Artikel 24) die Bewertung F – und bildete damit, gefolgt von Österreich, das Schlusslicht der Bewertungsskala aller geprüften Länder (Quelle: Aktion Mensch). Artikel 24 der Konvention verpflichtet die Mitgliedsstaaten, ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen zu errichten. Eine Verfehlung, der öffentlich kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Gerade für Menschen mit intellektuellen Behinderungen entsteht beim Übergang von Schule in den Beruf ein institutioneller Gap. Fachbezogene berufliche Qualifizierung für diesen Personenkreis gibt es kaum, die notwendigen Zugangsvoraussetzungen für die allgemeinen beruflichen Bildungsangebote erfüllen sie oft nicht. Mit dem Eintritt in die Werkstatt für Menschen mit Behinderungen beginnt eine lebenslange Abhängigkeit von staatlicher Hilfe. Ein späterer Übergang in den ersten Arbeitsmarkt ohne fachliche Qualifizierung immer unwahrscheinlicher. Die aktive Umsetzung des Artikel 24 könnte hier große Veränderungen bewirken.
EUCREA als Servicestelle: Beratung, Begleitung, Fortbildung, Vernetzung
Mit seinem neuen Serviceangebot berät und begleitet EUCREA nicht nur Kulturschaffende mit Behinderungen, sondern auch Ausbildungshäuser und Kulturbetriebe.
Künstler*innen mit Behinderung unterstützt EUCREA auf ihrem individuellen Weg. Das Beratungsangebot richtet sich an Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung, Neurodivergenz und Gehörlosigkeit, die Fragen zu künstlerischer Ausbildung, Studium, Berufseinstieg, Förderung oder Projektarbeit haben. Ziel ist, individuelle Perspektiven zu stärken, Zugänge zu öffnen und Selbstbestimmung zu ermöglichen.
Mit dem Programm ARTplus begleitet EUCREA künstlerische Ausbildungsinstitutionen – insbesondere Hochschulen – bei der Entwicklung inklusiver Studien- und Lehrangebote. In enger Zusammenarbeit mit Häusern aus den Bereichen Musik, bildender und darstellender Kunst werden neue Wege für die Aufnahme, Begleitung und Förderung von Studierenden mit Behinderung geschaffen. EUCREA bietet dabei individuelle Beratung zur Umsetzung und Finanzierung, unterstützt beim Aufbau von Assistenzstrukturen, vermittelt Studieninteressierte und begleitet die Hochschulen im Umsetzungsprozess.
„Als Hochschule ist uns Chancengerechtigkeit und Antidiskriminierung wichtig. Menschen mit Behinderung waren im Hochschulalltag bisher zu wenig sichtbar. Das zu ändern und inklusivere Ideen für die Zukunft zu entwickeln, gelingt uns durch ARTplus.“
Dr. Angelika Richter, Präsidentin weißensee kunsthochschule berlin
Studierende werden während ihrer Ausbildung kontinuierlich betreut und beraten. In Anschluss sollen Möglichkeiten für sie gefunden werden, im Kreativsektor beruflich tätig zu werden. Kulturbetriebe und Kreativwirtschaft können sich hinsichtlich der Einstellung von Kreativen mit Behinderung bei EUCREA beraten lassen.
Keimzelle Kunsthochschule: Normalisierung von Vielfalt
Das Programm ARTplus ist Bestandteil der Landesaktionspläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Niedersachsen und Hamburg. Darüber hinaus wird ARTplus aktuell in Berlin umgesetzt, Mecklenburg-Vorpommern befindet sich in der Vorbereitung.
„Das ARTplus-Programm von EUCREA ist Vorreiter im Bereich der Teilhabe an künstlerischen Hochschulen für Menschen mit Behinderungen. Es ist das einzige Projekt deutschlandweit, das die Studierenden in die bestehende Hochschulausbildung integriert und keine Sonderformen aufsetzt.“
Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von
Menschen mit Behinderungen
Im ARTplus-Programm von EUCREA studieren Künstler*innen mit und ohne Behinderung zusammen. Studierende an der HKS Ottersberg mit intellektuellen Behinderungen befinden sich bereits im 6./7. Semester. Hochschulen und Universitäten in Deutschland erfüllen neben Lehre und Forschung auch gesellschaftliche Aufgaben. Der Begriff "Third Mission" beschreibt die Verflechtung von Hochschule und Umwelt. Durch Hochschulen und Universitäten verbreitete Erkenntnisse stoßen auf hohe gesellschaftliche Akzeptanz und beeinflussen politische Entscheidungen. Bedeutende gesellschaftliche Veränderungen entstanden immer wieder aus diesem Sektor heraus. Was hier erprobt wird, kann sich außerhalb der Hochschule fortsetzen. Studierende können als "change agents" wichtigen Prozess für eine inklusive Gesellschaft von morgen einleiten.