Die inklusionsorientierte Hochschule –
    ein Qualitätsgewinn für alle

    Sechs Bausteine auf dem Weg zu einem neuen Bildungsverständnis

    von Angela Müller-Giannetti

     

    Die Hochschulen und Universitäten in Deutschland erfüllen die gesellschaftliche Aufgabe, gesammeltes Wissen zu pflegen, weiterzuentwickeln und zu lehren. Als öffentlich geförderte Institutionen sind sie Bestandteile des Gemeinwohls. Die durch sie verbreiteten Erkenntnisse stoßen auf hohe gesellschaftliche Anerkennung und sind gleichzeitig integraler Bestandteil ihrer selbst. Die gesellschaftliche Rolle dieser Institutionen ist zentral – ihre Ergebnisse beeinflussen die Politik, mit den von ihnen gesetzten Parametern wirken sie an der Gestaltung des sozialen Zusammenlebens maßgeblich mit.  

     

    UN-Behindertenrechtskonvention – ein inklusives Bildungssystem schaffen

    Der Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention benennt das Recht auf Bildung von Menschen mit Behinderung. Die unterzeichnenden Vertragsstaaten erkennen an, „ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen zu errichten und lebenslanges Lernen mit dem Ziel, Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten zur Entfaltung bringen zu lassen“1. Auch der Europarat erkennt das Recht auf Bildung an, indem dieser in seinen Verordnungen besagt, dass niemandem das Recht auf Bildung verwehrt werden darf2.

    In dem Rechtsgutachten von Prof. Dr. jur. Jörg Ennuschat, das sich mit dem Thema Nachteilsausgleich für Studierende mit Behinderung sowie den prüfungsrechtlichen Bausteine einer inklusiven Hochschule3 befasst:

    „Nach Art. 24 Abs.1 und S.1 UN-BRK anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderung auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen. Was unter „Gewährleistung“ zu verstehen ist, wird durch den UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen wie folgt zusammengefasst 4:

    „Die Gewährleistungspflicht erfordert die Ergreifung von Maßnahmen, die Personen mit Behinderungen in die Lage versetzen und ihnen helfen, das Recht auf Bildung auszuüben; dazu gehört zum Beispiel, dass Bildungsinstitutionen zugänglich sind und dass Bildungssysteme entsprechend angepasst und hierfür die notwendigen Ressourcen und Hilfen angeboten werden.“

    Der Hochschulbereich wird sodann explizit in Art. 24 Abs. 5 UN-BRK in den Blick genommen:

    „Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung … haben. Zu diesem Zweck stellen die Vertragsstaaten sicher, dass für Menschen mit Behinderungen angemessene Vorkehrungen getroffen werden.“ 4

     

    Teilhabe an Bildung statt Selektion im Bildungsbetrieb

    Im Rahmen meiner Recherchetätigkeit zur Umsetzung des Programms Artplus habe ich in den letzten Monaten viele Gespräche mit Hochschulverantwortlichen und Lehrenden aus verschiedensten künstlerischen Bereichen in Nord- und Mitteldeutschland geführt. Es wird deutlich: Das Thema Inklusion an Hochschulen (nicht nur künstlerischen) berührt substanzielle Aspekte des eigenen und des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Es geht um die Frage der zukünftigen Aufgaben und der Verortung von Hochschulen. Um die Anschlussfähigkeit unseres Bildungssystems. Und ganz sicher nicht zuletzt um ethische Aspekte: Wem gesteht unsere Gesellschaft aktuell das Recht auf welche Bildung zu?

    Vor Zulassung zu einem künstlerischen Studiengang steht in der Regel die Aufnahmeprüfung. Sie soll dazu dienen, das künstlerische Talent der sich bewerbenden Person über mehr oder weniger festgesetzte Parameter festzustellen. Wer aber kommt zu diesen Prüfungen? Sind es nicht die Personen, die ohnehin von Haus aus gefördert oder durch Maßnahmen der kulturellen Kinder- und Jugendbildung erreicht wurden? Ist die künstlerische Vorbildung in einer Förderschule mit der in einer allgemeinbilden-den Regelschule vergleichbar? Wäre eine talentierte Person mit intellektueller Behinderung – abgesehen davon, dass diese aufgrund ihrer Behinderung in Deutschland nicht über eine formale Hochschulzulassung verfügen kann – ohne Assistenz in der Lage, eine Bewerbungsmappe zu erstellen bzw. an einer Prüfung teilzunehmen?

    Und: Wer entscheidet letztlich über das Talent oder Nicht-Talent der sich bewerbenden Person? Zweifelsfrei haben Menschen ohne Behinderung die Deutungshoheit darüber, „was Kunst“ ist, denn Menschen mit Behinderung als Lehrende oder Beurteilende sind in den Hochschulen kaum zu finden. So reproduziert und bestätigt sich das System im weitesten Sinne selbst. Der eigentlichen Bedeutung des Begriffs „Wissenschaft“, der für Wissen, Erkenntnis und Erfahrung einer Zeitepoche steht, entspricht diese Vorgehensweise nicht.

    Durch unser selektierendes Bildungssystem, das sich im späteren Berufsweg und im gesellschaftlichen Gefüge weiter fortsetzt, verschenkt unsere Gesellschaft Potentiale und unterstützt Spaltung. Die Gesellschaft wäre enorm leistungsstärker, wenn sie – nicht nur in der Bildung – die Potentiale seiner Akteur:innen intensiv nutzte. Nebenbei verhindert ein Paradigmenwechsel weg vom selektiven Gesellschaftssystem Polari-sierung und die Tendenz zu antidemokratischen Entwicklungen. In einer Gesellschaft, in der Chancen offen stehen, werden das soziale Klima gestärkt und die Demokratie direkt gefördert.

    Der Auftrag an die Hochschulen

    Hochschulen fühlen sich dem Auftrag der Eliteförderung aktuell weit mehr verpflichtet als der Aufgabe, ihr Bildungsangebot möglichst vielen Menschen zur Verfügung zu stellen. Aus dieser Haltung heraus entsteht ein zweigleisiges Bildungsangebot – nicht nur in der Kunstwelt: Wer an einer Kunst-, Musik- oder Schauspielschule studiert, wird im späteren Leben weit höhere Chancen haben, am künstlerischen Diskurs teilzunehmen, in der Kunstwelt in Erscheinung zu treten oder gar beruflich in diesem Bereich tätig zu werden. Wer diesen Schritt nicht schafft, bleibt nicht nur von qualitativ hochwertiger Bildung ausgeschlossen, sondern auch weitestgehend vom etablierten Kulturbetrieb.

    Die aktuelle Hochschulpolitik setzt den Artikel 24 der UN-BRK bisher kaum um. Hoch-schulen und Forschungseinrichtungen sind als unabhängige öffentliche Einrichtungen für das Entstehen sozialer und technologischer Innovationen unabdingbar. Hier werden der künstlerische und der wissenschaftlichen Nachwuchs ausgebildet. In Bezug auf Inklusion können sie nicht nur als Vorbilder, sondern auch als Keimzellen für die Vielfaltsgesellschaft wirken. Die Hochschulen verfügen über das nicht unerhebliche Potential, die nächste Generation mit einem ganz anderen Begriff von „Normalität“ aufwachsen zu lassen als bisher. Menschen mit Behinderung können hier höher qualifiziert werden und erreichen, in entscheidenden Gremien in Zukunft mitzu-sprechen.

    6 Bausteine auf dem Weg zur inklusiven Hochschule

    Pyramidenartige Infografik ohne Spitze von Angela Müller-Giannetti, von oben nach unten: 6: Lehre, Inklusion im Lehrkörper, 5, Die Praxis, Curricula, Lehrformen und Leistungsnachweise, 4, Die Förderung, Information, Angebote, 3: Inklusionsbeauftragte, Rahmenbedingungen, 2: Zugang ermöglichen, Willkommenskultur, 1. Bildung für alle, Grundverständnis

    Baustein 1: Das Grundverständnis
    Inklusive Bildung ist ein Qualitätsgewinn für alle

    Inklusive Hochschulpolitik ist kein Add-On zugunsten von Menschen mit Behinderung. Die Basis für inklusive Hochschulen bildet eine gesellschaftliche Grundhaltung, die die Potentiale ihrer Mitglieder bestmöglichst fördern und entwickeln will mit dem Ziel, ein Maximum an Kreativität und Qualität herauszubilden. Hochqualitative Bildung möglichst Vielen vermitteln zu wollen, ist kein sozialer Projekt, sondern eine Selbstverständlichkeit. Viele Studierende verstecken ihre Behinderung aus der Sorge, stigmatisiert zuwerden oder mit Benachteiligungen am Arbeitsmarkt rechnen zu müssen. Vielfalt in der Form/Lehre führt zu mehr Partizipationsmöglichkeiten für alle.

    Baustein 2: Die Willkommenskultur
    Zugang ermöglichen als neue Aufgabe von Hochschulen

    Folgt man der Logik der UN-Behindertenrechtskonvention, so ist es die Aufgabe von Hochschulen, Personen zu befähigen, ihr Recht auf Bildung wahrnehmen zu können. Dies bedeutet auch, dass Hochschulen nicht nur auf Anfrage reagieren, sondern aktiv auf Menschen mit Behinderung zugehen. Ein solches Umdenken hat weitreichende Konsequenzen: Das Bildungssystem muss sich überlegen, wie es die bisher bestehenden Lücken zwischen Schule und weiterführenden Bildungsangeboten schließen kann. Hochschulen können hier wichtige Aufgaben übernehmen, indem sie Angebote im Vorfeld des Studiums anbieten, Studienformen auch ohne Prüfungen anbieten oder Bewerbende auf Zulassungsprüfungen aktiv vorbereiten.

    Baustein 3: Der Rahmen
    Die Aufgabe der Inklusionsbeauftragten neu definieren

    Die UN Behindertenrechtskonvention sieht vor, dass zur Umsetzung des Artikel 24 Maßnahmen zur Einstellung von Lehrkräften getroffen werden müssen. Die Inklusionsbeauftragten in deutschen Hochschulen verfügen häufig über geringe materielle Ressourcen und zeitliche Kontingente. Sie sind i.d.R. für die Aufgabe nicht ausgebildet und reagieren nur auf Anfrage. Im Sinne einer Hochschulpolitik, die Menschen befähigt, ihr Recht auf Bildung auszuüben, bekommen Inklusionsbeauftragte eine neue, gestaltende Rolle zugesprochen mit deutlich mehr Kompetenzen und Ressourcen. Sie schärfen das Bewusstsein der Lehrenden für Menschen mit verschiedenen Behinderungen und gestalten gemeinsam mit Diesen die Form der Vermittlung. Das Wissen hierfür rekrutieren sie aus einer langjährig aufgebauten Wissensdatenbank, die ständig weiterentwickelt wird. Geeignete Studienmaterialien und Assistenten für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen stehen zentral zur Verfügung. Sie sind für ihre Aufgabe ausgebildet worden und sind integriert in ein bundesweites Kompetenznetz.

    Baustein 4: Die Förderung
    Das finanzielle System

    Erkennt man das Recht auf Bildung als integralen Bestandteil der deutschen Gesellschaft an, werden bildungs- und studienfördernde Maßnahmen Menschen mit Behin-derung zentral, transparent und aktiv angeboten. Zur Förderung zählen persönliche Assistenzleistungen, der zentrale Zugang zu geeigneten Lehr- und Kommunikationsmitteln sowie möglicherweise finanzielle Unterstützung während der Ausbildung/des Studiums. Neben organisatorischen Leistungen können die Lernenden auf einen zentral organisierten Pool von fachspezifisch ausgebildeten Assistenten zurückgreifen, die ihnen während des Studienverlaufs helfen, sich auf Prüfungen und Leistungsnach-weise vorzubereiten.

    Baustein 5: Die Praxis
    Curricula, Lehrformen und Leistungsnachweise

    Inklusive Lehre erfordert neue Formen der Vermittlung. Die Frage, wie sich ein Curriculum an bestimmte Behinderungen anpassen lässt, wird durch die Frage der Methodenvielfalt ersetzt. Unterschiedliche Wege können zur Erreichung ein und desselben Ziels führen. Oder andersherum: Ein gemeinsamer Inhalt führt zur Erreichung unterschiedlicher Ziele, die als gleichwertig anerkannt werden. 

    Ein wichtiger Punkt kommt der Individualisierung von Leistungsnachweisen zu. Während sich die Maßnahmen von Nachteilsausgleichen auf Zeitzugaben, die Nutzung technischer Hilfsmittel und modifizierte Aufgabenstellung beschränken, könnte ein individualisierter Lösungsansatz direkt an den Fähigkeiten und Fertigkeiten der zu prüfenden Person im Verhältnis zum angestrebten Berufsabschluss Maßstab werden. Voraussetzung für einen individuellen Nachteilsausgleich ist eine differenzierte Ana-lyse der persönlichen Situation. Vorhandene Anforderungen werden nicht substituiert, sondern neue Vorgehensweisen entwickelt.

    Gewinnt der Aspekt von Teilhabe an Bildung an Bedeutung, können Studienformen, die ohne Leistungsnachweise funktionieren, entworfen werden.

    Baustein 6: Die Aufgabe
    Inklusion im Lehrkörper

    Die Berufung von Professorinnen und Professoren erfolgt auf Vorschlag der Lehrenden durch die jeweils zuständigen Landesministerien. Bei der Berufung von Professoren und Professorinnen in künstlerischen Hochschulen wird keine Promotion oder Habilitation vorausgesetzt. Stattdessen muss ein überragendes künstlerisches Lebenswerk vorliegen, das sich in der Regel in der Anerkennung in Fachkreisen manifestiert hat. Künstlerinnen oder Künstler mit Behinderung können hier in Zukunft vorgeschlagen werden.

    Kunst-, Musik- und Schauspielschulen bilden den künstlerischen Nachwuchs aus. Ein großer Teil von ihnen ist später in der Lehre tätig. Nichtbehinderte Studierende, die mit Studierenden mit Behinderung gemeinsam lernen, kooperieren in ihrer späteren beruflichen Praxis.




    Quellenverzeichnis

    1 UN – Behindertenrechtskonvention BRK, Art. 24 b

    2  ZP-EMRK Art. 2 Abs. 1 des (ersten) Zusatzprotokolls

    3 Prof. Dr. iur. Jörg Ennuschat „Nachteilsausgleiche für Studierende mit Behinderungen _ Prüfungsrechtliche Bausteine einer inklusiven Hochschule“ Rechtsgutachten, Herausgegeber: Deutsches Studentenwerk (DSW), Berlin 2019

    4 Prof. Dr. iur. Jörg Ennuschat „Nachteilsausgleiche für Studierende mit Behinderungen _ Prüfungsrechtliche Bausteine einer inklusiven Hochschule“ Rechtsgutachten, Herausgegeber: Deutsches Studentenwerk (DSW), Berlin 2019, Seite 21, Kap. 2c UN-Behindertenrechtskonvention / Recht auf (Hochschul-)Bildung Artikel 24 Abs. 1 und 5 UN-BRK