Wann gibt es die Hochschule für alle?

    Von Amelie Rogge

    Wer in Deutschland eine Behinderung hat, kann durchaus studieren, muss aber vor allem Recherchekompetenz haben oder Menschen kennen, die diese besitzen und sich für sie stark machen. Warum? Kurz gesagt: Weil die Informationen dazu nicht auf der Straße liegen. Schon gar nicht mit der Diagnose der sog. "geistigen Behinderung". Dazu sei gesagt, dass allein schon das Abitur oder eine Berufsausbildung mit diesem "Stempel" oft gar nicht erreichbar ist, was meistens als Voraussetzung für ein Studium gilt. Das muss nicht sein. In diesem Artikel haben wir von EUCREA ein paar Studien-programme gesammelt, die sich an diese Zielgruppe richten.

     

    An der Bar-Ilan Universität in Tel Aviv gibt es das Otzmot Empowerment Project. Es ist das Ziel, den Bachelor-Abschluss in Erziehungswissenschaften in inklusiven Lerngruppen zu erlangen. Otzmot bedeutet „Kraft“ und Empowerment heißt u. a. „Bestärkung“. Otzmot-Studierende belegen mehrere akademische Kurse an der Churgin School of Education, etwa eine Einführung in die Psychologie, eine Einführung in die Soziologie, Selbsthilfe, Bibliothek und Computer; dabei werden sie von Studierenden des MA-Programms unterrichtet. Haben die Teilnehmer*innen diese erste Stufe gemeistert, starten ab Stufe 2 die inklusiven Lerngruppen, und es wird gemeinsam gearbeitet. Auf Stufe 3 werden die Besten sechs bis zehn Teilnehmer*innen als Bachelor-Studierende registriert, bekommen eine*n Tutor*in zur Seite gestellt und können so innerhalb von zwei Jahren ihren Bachelor-Abschluss erlangen. Eigentlich sollte es nicht extra erwähnt werden müssen, aber: Ja, es handelt sich hier um einen regulären Abschluss, denn dies war ein Ziel der Bachelor-Master-Reform: Vergleichbarkeit. Nur der Weg dahin ist (vielleicht) anders. Es muss dennoch betont werden, da es nicht selbstverständlich ist, einen vollwertigen Abschluss zu bekommen, wenn man mit bestimmten Behinderungen studiert. Ganz ohne Leistungs- oder Zeitdruck kommt auch dieser Studiengang nicht aus, denn nur die Besten kommen weiter, und der Abschluss muss innerhalb von zwei Jahren erlangt werden.

    Das Programm On-Campus der University of Alberta in Kanada überzeugt durch freie Kurswahl in den ersten zwei Jahren, danach soll es zwei Jahre berufsbezogen werden. Es umfasst elf Tandems, von denen neun für Menschen gedacht sind, die sich für ihr Studium einen persönlichen Ansprechpartner und Mit-Organisator wünschen bzw. diesen brauchen, während zwei an Menschen gehen, die auch die Vorlesungen mit Assistenz besuchen möchten oder müssen. Zwar werden individuelle Ziele und Prüfungsformen erarbeitet, ein Abschluss kann allerdings nicht erlangt werden. Laut Quelle müssen die Studieninteressierten mit ihren Erziehungsberechtigten an einem Auswahlgespräch teilnehmen, obwohl sie über 18 sein müssen. Dies deshalb zur Voraussetzung für die Teilnahme zu machen, sollte kritisch gesehen werden, da eine Pflicht zur Gesprächsbegleitung schnell entmündigend wirkt. Nur wenn der Wunsch nach Begleitung von Studienanfänger*innen geäußert wird, sollte diese ermöglicht werden. Am besten für alle.
     

    In Australien, genauer an der Flinders University in Adelaide, ist es ähnlich: Im dreijährigen Programm Up the hill! wird allerdings primär eine Gasthörerschaft angeboten. Wer dazu noch eine Präsentation zu einem selbstgewählten Thema hält, bekommt eine Leistungsbescheinigung. Prüfungen sind nicht vorgesehen, folglich auch kein Abschluss.
     

    Die Uni Köln hat im September 2019 eine viertägige, inklusive Summer School (kurz SUSHI) ins Leben gerufen, um „Menschen mit geistiger Behinderung im Kontext einer inklusiven Lerngruppe Einblicke in universitäres Lernen“ (SUSHI 2019) zu geben. „Im Anschluss an die Veranstaltungswoche [werden] die Erkenntnisse genutzt, um Möglichkeiten der Verankerung derartiger partizipativer Veranstaltungs- und Forschungsformate im universitären Bereich zu erarbeiten.“ Dies hätte sicherlich Entwicklungspotenzial gehabt, wären es nicht nur vier Tage gewesen und die Erkenntnisse inzwischen veröffentlicht worden. Um diese Erkenntnisse dann ernst nehmen zu können, braucht es neben der Vergleichbarkeit einen weiteren wissenschaftlichen Grundsatz: Die Wiederholbarkeit. Und dafür müssten inklusive Veranstaltungen regelmäßig stattfinden.

    Dass wir in Deutschland also unbedingt Nachhilfe in Sachen inklusiver Hochschulbildung brauchen, zeigt natürlich nicht nur Köln, sondern auch zum Beispiel die Homepage des Deutschen Studentenwerks. Die Informationen werden nur teilweise in Gebärdenspräche oder vorlesbar angeboten, nicht aber in Einfacher Sprache. Eine Hochschule für alle, die die „Studentenwerke“ hier nach der UN- Behindertenrechts-konvention angeblich umsetzen wollen, ist das leider nicht.

    Damit sich die Bildungslandschaft ändern kann, braucht es Expert*innen mit Behinderung (mit Lernschwierigkeiten). Das Institut für inklusive Bildung in Schleswig-Holstein der Universität in Kiel bietet daher eine Weiterbildung zu einer Art Inklusionsberater*in an.

    Für den Bereich Kunst und Kultur lohnt sich ein Blick in die von EUCREA ebenfalls zusammengetragenen Künstler*innen-Biographien. Nicht nur für die eigene Bestärkung, sondern auch um den Verantwortlichen zu zeigen, dass in der inklusiven Hochschulbildung noch mehr möglich ist, als Deutschland 2021 umsetzt. Und hier sind ganz klar auch Menschen ohne offizielle Behinderungsdiagnose gemeint: Auch sie können darauf aufmerksam machen, was anderorts schon möglich ist und aus Schwachstellen lernen. Damit die angeblichen Einzelfälle und Pilotprojekte immer mehr zu verändernden Strukturprogrammen werden, denn wir brauchen gut ausgebildete Künstler*innen und Kulturvermittler*innen mit Behinderung für einen diversen Kulturbetrieb.